In Zeiten von Corona kursiert viel Desinformation in allen erdenklichen Medien jeder Seite– sowohl in den Mainstream-Medien als auch in sozialen Kanälen. Nun haben verschiedene Medien über die Bilder vom Ganges in Indien geschrieben, als Leichen angeschwemmt worden sind. Diese Leichen werden den vorliegenden Berichten nach noch obduziert.
Doch schon jetzt wird berichtet, dass „mutmaßlich Corona-Opfer im Ganges“ treiben würden. Die Macht der Bilder ist schockierend. Leider gehört es auch zur traurigen Wahrheit in Indien, das praktisch täglich Leichen im Ganges auftauchen. Deshalb ist es erforderlich, bei Bildern genau hinzusehen.
Mutmaßlich und könnte – in einem Satz
Denn an den Ufern des Ganges sind „mehrere Leichen angeschwemmt worden, bei denen es sich angeblich um mutmaßliche Corona-Todesopfer handeln könnte“, so der Autor der FAZ. Die Corona-Nachrichten, die von den Medien in den vergangenen Tagen über die „gefährliche Virus-Mutante“ in Indien verbreitet worden sind, lässt offenbar nur den Schluss zu, dass es sich bei dem im Ganges treibenden oder am Ufer angeschwemmten Leichen folgerichtig nur um Corona-Tote handeln könne. Auch der ORF schrieb, dass „die im Ganges angeschwemmten Leichen mutmaßliche Covid-19-Opfer“ seien. Die Medien beziehen sich dabei eigenen Angaben zufolge auf die Berichterstattung vor Ort.
Auf den ersten Blick mag das für den Indien-unerfahrenen Leser erschreckend klingen. Doch dass Leichen im Ganges treiben, gehört in Indien zur traurigen Normalität, von denen Reisende und Indien-Kenner seit Jahren berichten. Dass es sich um Covid-Tote handelt, ist zumindest statistisch fraglich. Der Economist berichtete noch im März, dass die Corona-Todesrate in Indien überraschend niedrig sei. Zum internationalen Vergleich laut JHU und Our World in Data:
Weltweit sind etwa 156 Millionen Fälle gemeldet worden, denen 3,256 Millionen Todesfälle zugeordnet werden. Dies entspricht einer weltweiten Todesrate von 2 %. Pro 1 Million Menschen sind weltweit 20.000 Fälle (an Infektionen)zugeordnet worden.
In Indien sind bis dato 23,7 Millionen Fälle gemeldet worden, bei denen es 258.317 zugeordnete Todesfälle gab. Dies entspricht einer Todesrate von 1,1 %. Pro 1 Million Menschen sind in Indien 17.400 Fälle (an Infektionen) zugeordnet worden.
Demnach ist im internationalen Vergleich das Geschehen in Indien statistisch überbewertet sind (bislang), sodass die Informationen über die relativen Geschehnisse mit hoher Vorsicht interpretiert und dargestellt werden müssen. Deshalb stellt sich auch die Frage, wie es um die Leichen im Ganges bestellt ist.
Seit 2008 bekannt: Leichen im Ganges
Doch woher kommen die Leichen im Ganges? Bereits seit 2008 ist das Phänomen der im Ganges treibenden Leichen bekannt. Reisende berichten seit Jahren von den gruseligen Bildern. Was die wenigsten wissen: Gläubige Inder betrachten und nutzen den Ganges als Fluss, um darin zu beten, sich darin zu waschen, ihr Geschäft darin zu verrichten und als Müllkloake. Doch viele gläubige Inder bestatten auch ihre Toten am Ganges. Gerade in dem bekannten heiligen Wallfahrtsort Varanasi werden immer wieder viele Leichen an die Ufer des Ganges getrieben.
Varanasi ist die religiöse Hauptstadt Indiens und des Hinduismus. Viele Hindus wollen dort sterben oder die Asche ihrer verstorbenen Angehörigen im Ganges verteilen. Verstorbene werden an den Ufern des Ganges von ihren Angehörigen verbrannt. Deshalb brennen dort rund um die Uhr Leichenfeuer an den Ufern.
Die Feuerbestattung von Leichen ist seit Jahrtausenden Tradition in Indien. Pro Tag werden bis zu 100 Menschen verbrannt. Das Problem: Bei der Feuerbestattung haben die Angehörigen oftmals nicht genug Holz, um die Leichen vollständig zu verbrennen. Eine vollständige Verbrennung dauert mindestens drei Stunden.
Da das Holz oftmals aus Geldmangel nicht reicht, werden die Überreste der teilweise nur verkohlten Leichen trotzdem in den Ganges geworfen, damit die Hindus ihrem Abschiedszeremoniell dennoch gerecht werden können. Indien kämpft seit Jahren mit steigenden Zahlen der Leichen im Ganges. 2014 versprach der indische Premierminister Modi den Ganges sauber zu halten. Denn dieser wird nicht nur von Leichenteilen überschwemmt, sondern auch von Fäkalien, die Inder in den Fluss leiten und von Abwässern aus Fabriken vergiftet.
Das Problem der Leichen ist schon seit Jahren bekannt und auch für Medien wird dieser Umstand bekannt sein. Die Schlagzeile von „über 70 angeschwemmten, mutmaßlichen Covid-Leichen“ ist in diesem Zusammenhang fragwürdig, solange keine Obduktionen vorgenommen worden sind – womit die Lage in Indien in keiner Weise verharmlost werden soll.