An der Grenze zur Ukraine werden immer mehr Truppen zusammengezogen und hält der Aufmarsch an, dürfte die russische Armee Mitte Januar stark genug sein, um einen Militärschlag gegen das Nachbarland auszuführen. Das führt dazu, dass in diesen Tagen auch normale Menschen Satellitenbilder von Militärlagern betrachten und Videos von Truppentransporten schauen, die mit derartigen Zeitvertreiben in der Regel nicht viel am Hut haben.
Noch ist nicht klar, welches Ziel die russische Regierung mit dem Truppenaufmarsch verfolgt. Normale Manöver scheiden aus, denn sie werden normalerweise zuvor angekündigt und zumeist auch nicht mit Truppen in dieser Stärke durchgeführt. Auch das Ziel, vom Westen wieder als ein Gesprächspartner wahrgenommen zu werden, hat Präsident Putin inzwischen erreicht.
Trotzdem geht der Aufmarsch weiter und da dieser auch für die russische Seite nicht zum Nulltarif zu haben ist, weil die Truppenverlegung hohe Kosten verursacht, ist anzunehmen, dass das Hauptziel noch nicht oder zumindest noch nicht ganz erreicht ist. Russland fordert Sicherheitsgarantien, doch diese Forderung findet bestimmt keinen Widerhall, solange man selbst im Ausland als derjenige wahrgenommen wird, der beständig Öl ins Feuer gießt.
Soll auch die Ukraine zu einem toxischen Staat werden?
Eine interessante Sicht auf die verworrene Lage hat Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen in der Neuen Züricher Zeitung vorgestellt. Er geht davon aus, dass ein neuer Staatenkrieg nicht das Ziel des Kreml ist, denn in ihrer gegenwärtigen Verfassung stellt die Ukraine für Russland kein wirkliches Problem dar.
Eher für den Westen, denn der Staat wirkt wirtschaftlich und finanziell schwach und ist innerlich zerrissen. Für die abtrünnigen Gebiete im Donbass und an der Grenze zu Moldawien fordert Russland nun Autonomie. Wird dieser Forderung auf dem Verhandlungsweg oder durch lokale von Russland unterstützte Aufstände Wirklichkeit, entsteht endgültig ein weiterer fragmentierter Staat.
Ein Staat, der allerdings nicht einmal sein eigenes Staatsterritorium vollständig kontrolliert, ist für den Westen viel zu uninteressant, als dass er in absehbarer Zeit NATO-Mitglied werden könnte. So könnte sich derzeit in der Ukraine wiederholen, was 2008 schon in Georgien geschah. Auch unter George W. Bush schreckte die westliche Allianz davor zurück, einen zerrissenen Staat zu einem NATO-Mitglied zu machen.
Oder anders ausgedrückt: Solange die Ukraine eine Art „toxischen“ Staat für den Westen darstellt, wird sie sich zwangsläufig gen Osten orientieren müssen, weil sie keine verlässlichen Verbündeten im Westen hat. Unter dieser Perspektive kommt die aktuelle Lage aus russischer Sicht einer „Lösung“ des Problems schon recht nahe.