Er war sich bewusst, dass er sich mit seiner Aussage weit aus dem Fenster lehnte, dennoch erklärte der polnische General Waldemar Skrzypczak in dieser Woche: „Die Ukraine beginnt, den Krieg zu gewinnen.“ Eine gewagte These des ehemaligen Chefs der polnischen Landstreitkräfte, aber offenbar nicht ganz unbegründet.
In Polen analysiert General Skrzypczak das militärische Geschehen im Nachbarland. Er ist deshalb nicht nur ein von den Medien stark gefragter Fachmann, sondern verfügt offenbar aus seiner aktiven Zeit auch über gute Beziehungen zum ukrainischen Generalstab. Möglicherweise ist das einer der Gründe warum seine Lagebeurteilungen und Einschätzungen, sich in den ersten zwei Kriegswochen als recht zutreffend erwiesen haben.
Aktuell ist Skrzypczak der Ansicht, dass der Krieg in eine entscheidende Phase eintritt und möglicherweise bereits in den nächsten Tagen entschieden werden könnte. In einem Interview mit dem polnischen Nachrichtenmagazin wPolityce erklärte der General, dass die russischen Streitkräfte derzeit extreme Probleme hätten, was die Ukraine in die Lage versetzen könnte, die Bedingungen für einen Waffenstillstand bzw. Frieden zu diktieren.
Putin schickte seine besten Truppen und die wurden geschlagen
Sollte es den Russen kurzfristig nicht gelingen, operative Reserven in die Ukraine zu bringen, hätten sie keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Auch eine im Geheimen durchgeführte allgemeine Mobilmachung Russlands könne daran nichts ändern, weil die Reservisten erstens nicht rechtzeitig an die Front kämen und zweitens im Vergleich zu den regulären Streitkräften auch einen geringeren Kampfwert hätten.
Putin habe seine besten Truppen in die Ukraine geschickt, und die seien geschlagen worden, erklärte der General und verwies dabei auf die Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee. Sie konnte die Einnahme des Wasserkraftwerkes von Kaniv am Dnjepr, das etwa 150 km flussabwärts von Kiew liegt, ebenso verhindern wie den Versuch, die Stadt Nikolajew in der Südukraine zu erobern.
Angesichts der eigenen Misserfolge seien die russischen Truppen an vielen Orten bereits zur Verteidigung übergegangen, berichtete Skrzypczak und richtete sein Augenmerk auf die bislang erlittenen Verluste. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs sollen in den ersten beiden Kriegswochen bereits 11.000 russische Soldaten gefallen sein.
Krieg auch als eine mathematische Frage?
Rechnet man nun hinzu, dass auf einen gefallenen Soldaten in der Regel drei oder vier Soldaten kommen, die verwundet wurden oder in Gefangenschaft gerieten, bedeutet dies, dass die russische Invasionsarmee von möglicherweise bis zu 200.000 Mann bereits ein Viertel ihres Personalbestands verloren habe. Auch die Ausrüstung habe entsprechend gelitten.
Militärtheoretiker, gab Skrzypczak zu bedenken, gehen davon aus, dass Einheiten, die 40 Prozent ihres Personalbestands verloren haben, nur noch eingeschränkt kampffähig sind. Liegen die Ausfälle sogar bei 60 Prozent sind die Einheiten nicht mehr kampffähig und müssen zur Auffrischung aus der Front herausgelöst werden.
Die Logik dieser Aussagen ist nicht zu bezweifeln und könnte deshalb in der Tat auf ein akutes Problem der russischen Streitkräfte zu Beginn der dritten Kriegswoche verweisen. Unklar ist allerdings, wie realitätsnah oder realitätsfern die ukrainischen Angaben zur Höhe der russischen Verluste sind und wie es derzeit um die Moral und damit letztlich auch um die Kampfbereitschaft auf beiden Seiten bestellt ist.