Lange Zeit nahm Amazon für sich in Anspruch, eines der Unternehmen mit den niedrigsten Fluktuationsraten im höheren Management zu sein. Wer einmal kam, fühlte sich offenbar wohl im Unternehmen und blieb diesem über Jahre, manchmal sogar auch über Jahrzehnte hinweg treu.
Doch in der Zwischenzeit verlassen den Internetkonzern die Topmanager in Scharen. Etwa 350 Vizepräsidenten und Senior Executives verrichten bei Amazon täglich ihren Dienst. 45 von ihnen haben das Unternehmen in den letzten 15 Monaten verlassen. Damit kommt der Internethändler auf eine Fluktuationsrate von mehr als zehn Prozent und verlor eine Führungserfahrung, die sich zusammengenommen auf fast 450 Jahre Amazon-Betriebszugehörigkeit addiert.
Amazons Führungskräfte sind bei Unternehmen, die eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben wollen, aktuell sehr gefragt. Junge börsennotierte Unternehmen, die den Sprung in die nächste Liga anstreben, aber auch Start-ups in der Endphase bieten den Abwanderungswilligen Gehälter, welche die Saläre, die Amazon zahlt, leicht um ein Vielfaches übertreffen können.
Söldner oder Missionare?
Auch die Vergütungsmodelle sind attraktiver als das von Amazon, das eine recht starre Vergütungsstruktur aufweist. Das jährliche Grundgehalt ist für die meisten Führungskräfte bei 160.000 US-Dollar gedeckelt. Aktienprämien werden zwar gewährt, wurden aber in den letzten Jahren stark nach hinten verschoben.
Viele Topmanager, die das Unternehmen jetzt verlassen, sind zu ihm gestoßen, als Amazon noch ein junges Unternehmen war. Sie haben es mit aufgebaut und zu seinem rasanten Aufstieg ihren Teil mit beigetragen. Wenn in Kürze Jeff Bezos seinen Chefsessel räumt und die Verantwortung an Andy Jassy abgibt, wird auch dieser Aspekt in der inneren Führung an Bedeutung gewinnen.
Denn immer öfter werden die abgewanderten zumeist wachstumsorientierten Mitarbeiter durch Kräfte ersetzt, die von größeren und damit in der Regel langsameren Unternehmen kommen. Mit ihnen zieht zwangsläufig auch eine andere Kultur in das Kult-Unternehmen ein. Bislang hat man primär vergütungsorientierte Manager bei Amazon als Söldner betrachtet und diese auch ziehen lassen. Gewünscht waren die Missionare, die blieben, weil sie vom Unternehmen überzeugt waren. Was aber, wenn ausgerechnet diese Missionare nun immer häufiger gehen?