Wochenlang starrte die Welt im März und April auf die Hafenstadt Mariupol. Der Widerstand der dort kämpfenden Soldaten war aufopferungsvoll und entbehrungsreich und letztlich doch vergeblich. Nun befinden sich die Überlebenden in russischer Kriegsgefangenschaft und sind für die ukrainischen Streitkräfte damit zunächst verloren.
In Sjewjerodonezk drohte sich diese Ereignisse in den letzten Tagen zu wiederholen. Doch anders als Adolf Hitler, der seinen Truppen im Zweiten Weltkrieg auch im Anschluss an die Schlacht von Stalingrad einen taktischen Rückzug meist verbot und damit eine verlorene Kesselschlacht nach der anderen inszenierte, hat die ukrainische Armee aus ihren Fehlern gelernt.
Sjewjerodonezk wurde aufgegeben und nicht verteidigt und obwohl der Ring um die Stadt schon recht weitgehend geschlossen war, ist es den ukrainischen Truppen gelungen, diese größtenteils zu verlassen. Die herausgezogenen Verbände sind zwar angeschlagen und bedürfen einer Auffrischung. Sie bleiben aber für die Ukraine weiter im Spiel und können zu einem späteren Zeitpunkt wieder eingesetzt werden.
Der Krieg wandelt sich zu einem Zermürbungskrieg
Der Rückzug aus der Stadt ist wird dadurch nicht angenehmer, wohl aber weitaus weniger katastrophal als eine erneute Einkesselung hätte werden können. Im Hintergrund dieser Entscheidung der ukrainischen Militärführung dürfte auch die Erwartung stehen, dass der Krieg noch lange andauern wird.
Auch das hatten Ende Februar wohl nur die wenigsten Beobachter erwartet. Zu groß schien die zahlenmäßige und materielle Überlegenheit der Russen. Letztere haben sich wieder einmal nicht mit Ruhm bekleckert, denn das Entkommen der fast schon ganz eingekesselten Ukrainer dürfte auf lange Sicht schwerer wirken als der kurzfristige propagandistische Erfolg, ein wichtiges Kriegsziel von Wladimir Putin erobert zu haben.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung dürfte auch die Entscheidung der US-Regierung sein, der Ukraine weitreichende moderne Mehrfachraketenwerfer zu liefern. Auch wenn nur solche Munition geliefert werden soll, mit der lediglich Ziele in einer Reichweite von maximal 80 Kilometer Entfernung bekämpft werden können, so wird es der ukrainischen Führung doch möglich werden, tief im Hinterland der russischen Front zu wirken.
Dort können die russischen Einheiten, die sich zu einem neuen Angriff bereitstellen, dann bereits bekämpft werden, lange bevor sie sie eigentliche Frontlinie erreichen. Dies war schon im Februar und März während der Schlacht um Kiew der entscheidende Faktor, der den Ukrainern letztlich den Sieg brachte.