Was haben Christine Lagarde und das antike Orakel von Delphi aktuell gemeinsam? Nun, vielleicht, dass man sehr viel in ihre Aussagen hineininterpretieren kann. Das hat sich schon immer als sehr gefährlich erwiesen, denn wer zu viel oder auch zu wenig in die Aussagen hineininterpretiert hat, sah sich am Ende schon des öfteren mit recht unangenehmen Konsequenzen konfrontiert.
Im letzten halben Jahr haben Vertreter der Europäische Zentralbank immer wieder öffentlich erklärt, dass die Inflation nur vorübergehend sei und man deshalb durch sie hindurchsehen werde. Zinserhöhungen und damit zumindest eine Aufgabe des negativen Leitzinses wurden so kategorisch ausgeschlossen, dass dem geneigten Bürger und Eurogeldbenutzer in der Nacht leicht der Schlaf geraubt werden konnte, wenn man in den dunklen Stunden zu oft und zu lang an die Sicherheit seiner eigenen Ersparnisse gedacht hat.
Inzwischen gibt es für all die, die auf steigende Zinsen hoffen, damit die Inflation nicht völlig aus dem Ruder läuft, zumindest einen Funken Hoffnung, denn Christine Lagarde hat erklärt, dass sie Zinserhöhungen nicht mehr generell ausschließe. Allerdings müssten die für eine Zinserhöhung notwendigen Kriterien gegeben seien und das sei derzeit nicht der Fall.
Harte Kriterien mit jede Menge Interpretationsspielraum
Entscheidend für die EZB, sagte ihre Chefin auf einer Diskussionsveranstaltung des Weltwirtschaftsforums, sei die Frage, wie lange die hohe Inflation anhalten werde. Nun, bei dieser Frage blieb die Europäische Zentralbank schon im letzten halben Jahr deutlich hinter der Realität zurück, womit hinter ihre Prognosequalität durchaus das eine oder andere Fragezeichen gesetzt werden kann.
Entscheidend seien die erstmals im Juli 2021 benannten Kriterien für eine mögliche Zinserhöhung. Um sie zu realisieren, bedürfe es nicht nur einer Inflation, die über dem Inflationsziel der EZB von zwei Prozent liege, was bereits seit mehr als einem halben Jahr der Fall ist. Sondern entscheidend sei vielmehr, dass die Zentralbank davon ausgehe, die Inflationsrate werde bis zum Ende des Prognosezeitraums nicht mehr unter die Schwelle von zwei Prozent zurückfallen.
Aktuell reicht der EZB-Prognosezeitraum bis zum Ende des Jahres 2024 und etwas überspitzt formuliert besteht für die Zentralbank keine Notwendigkeit die Zinsen im Euroraum zu erhöhen, solange man noch davon ausgeht, dass die Inflation spätestens im November und Dezember 2024 wieder bei 1,9 Prozent steht.
Eine solche Hoffnung kann man, wenn man will, sehr lange nicht nur in sich tragen, sondern, wenn es sein muss auch öffentlich laut vor sich hertragen. Sollte die EZB mit ihren Prognosen wieder einmal falsch liegen, was übrigens nicht das erste Mal wäre, sind die Sparer wieder einmal die Dummen, denn sie hätten zwei Jahre umsonst gehofft.