Aus russischer Sicht ist der Krieg in der Ukraine, kein Krieg, sondern „nur“ eine Spezialoperation. Diese verläuft, schenkt man den Verlautbarungen des russischen Generalstabs Glauben, schon seit dem 24. Februar vollkommen nach Plan. Und dieser Plan scheint vorzusehen, dass nun nach sieben Monaten mit harten und verlustreichen Kämpfen eine Teilmobilmachung für die russischen Streitkräfte verfügt wird.
Jetzt sollen also 300.000 zusätzliche Reservisten richten, was die regulären Streitkräfte zuvor nicht zu richten in der Lage waren. Ein Grund für ihr Unvermögen war der schlechte Zustand der russischen Waffen und Fahrzeuge, ein anderer ebenfalls nicht unwesentlicher Grund war ihre schlechte Kampfmoral.
In normalen Zeiten wären 300.000 zusätzliche Soldaten in der Tat eine ansehnliche Verstärkung und gewiss auch furchteinflößende Streitmacht. Aber sind die heutigen Zeiten noch normal? Ist die russische Armee noch auf dem Niveau, dass man ihr vor beispielsweise einem Jahr noch fraglos unterstellt hat?
Russland rüstet auf, aber reicht das?
Die Zweifel an beiden Annahmen sind durchaus berechtigt, auch wenn kein Grund besteht, die 300.000 zusätzlichen Reservisten auf dem Schlachtfeld und damit die Verschärfung der Gangart durch die russische Regierung generell zu unterschätzen. Doch nicht anzunehmen ist, dass die einberufenen Reservisten in ihren Kasernen plötzlich besser gewartete Waffen und Fahrzeuge vorfinden werden als die regulären Streitkräfte im vergangenen Winter, als sie sich auf den Weg an die ukrainische Grenze machten.
Auch der Punkt der Kampfmoral dürfte weiterhin eher für die Ukraine als für Russland sprechen, denn die ukrainischen Soldaten verteidigen ihr Heimatland und sie haben dies seit Kriegsbeginn in einer sehr aufopferungsvollen Art und Weise getan. Mit einer vergleichbaren Moral sind die russischen Soldaten bislang in diesem Krieg noch nicht in Erscheinung getreten.
Die Machthaber im Kreml mögen hoffen, dass sich dies ändert, sobald die Separatistengebiete und die eroberten ukrainischen Gebiete ihren Wunsch nach einem schnellen Anschluss an Russland bekundet haben. Doch auch diese Hoffnung könnte sich sehr schnell als sehr trügerisch erweisen.