Der Wiederaufbau der Ukraine wird nicht einfach so gelingen – aktuell gehen Forscher des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) davon aus, dass der Bevölkerungsschwund in der Ukraine (zu) hoch sei.
Der Bevölkerungsschwund gefährdet den Wiederaufbau
„Der Bevölkerungsschwund infolge des Ukraine-Kriegs gefährdet laut einer Studie den Wiederaufbau des Landes. „Der Krieg hat die demografische Krise der Ukraine, in der sich das Land seit seiner Unabhängigkeit befindet, radikal verschärft und wird zu einem massiven Arbeitskräftemangel nach Kriegsende führen“, schreiben die Forscher des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zu den am Donnerstag veröffentlichten Ergebnissen.
Unabhängig davon, wie lange der Krieg dauere und ob es zu einer weiteren militärischen Eskalation komme oder nicht, werde sich die Ukraine demografisch nie mehr von den Folgen des Krieges erholen. Auch im Jahr 2040 werde sie mit rund 35 Millionen Einwohnern etwa 20 Prozent weniger haben als vor dem Krieg (2021: 42,8 Millionen). Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dürfte dabei in jedem Fall am stärksten und folgenreichsten ausfallen, heißt es weiter. Dadurch könnte der Wiederaufbau enorm beeinträchtigt werden, weil die Menschen fehlten, um die Zerstörungen zu beseitigen und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Das gelte vor allem für die östlichen und südöstlichen Regionen des Landes, die am stärksten vom Krieg betroffen seien. Vor allem die massive Abwanderung von gut ausgebildeten Frauen, zumeist im erwerbs- und gebärfähigen Alter, die etwa 70 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge ausmachten, dürfte den Bevölkerungsverlust auf lange Zeit zementieren, so die Wiener Forscher. Dazu komme der Exodus von vielen Kindern und Jugendlichen, die rund ein Drittel der Geflohenen ausmachten. „Viele von ihnen werden nicht mehr da sein, wenn es darum gehen wird, das kriegszerstörte Land wieder aufzubauen. Wir gehen davon aus, dass mehr als 20 Prozent der Flüchtlinge nicht in die Ukraine zurückkehren werden“, sagte WIIW-Ökonomin Maryna Tverdostup.
Selbst wenn der Krieg noch in diesem Jahr enden würde, würde die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Ukraine geflohen sind, bis Ende 2023 rund 8,3 Millionen betragen. Im besten aller Fälle dürfte die Bevölkerung des Landes ab 2024 wieder zunehmen und 2030 ihren Nachkriegshöchststand von 37,8 Millionen erreichen. Trotzdem würde sie nie wieder das Vorkriegsniveau (2021) von rund 42,8 Millionen erreichen und 2040 bei etwa 36 Millionen zum Erliegen kommen, also etwa 17 Prozent unter dem Vorkriegsniveau, erwarten die Forscher.
Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (18- bis 60-Jährige) würde auf 19,9 Millionen sinken, was einem Rückgang von 22,6 Prozent gegenüber 2021 entspräche. Die Geburtenrate würde sich schneller erholen, weniger Menschen würden sterben und die Flüchtlinge würden früher zurückkehren als in den anderen Szenarien. Wenn der Krieg in diesem Jahr zu Ende ginge, es zuvor aber noch zu einer militärischen Eskalation käme, sänke der Bevölkerungsstand in diesem Jahr auf 34,2 Millionen Menschen (ein Rückgang um 21 Prozent gegenüber 2021). Somit würde die Ukraine im Falle einer Eskalation des Krieges weitere 1,7 Millionen Menschen verlieren, selbst wenn er bereits im Jahr 2023 vorbei wäre.
Das Worst-Case-Szenario geht hingegen von einem langen Krieg bis zum Jahr 2025 aus. In diesem Fall würde die Ukraine zwischen 2022 und 2025 rund sieben Millionen Menschen verlieren, und auch in den 2030er-Jahren würde die Bevölkerung nicht wieder den Stand von 2022 erreichen. In diesem Szenario bliebe die Fruchtbarkeit niedriger, die Sterblichkeit höher, die Abwanderung von Flüchtlingen hoch und die Anzahl der Rückkehrer begrenzt. Die prognostizierte Anzahl der Flüchtlinge ist dabei besonders dramatisch: In diesem Szenario würde sie bis Ende 2025 auf 14 Millionen Menschen steigen, wobei angenommen wird, dass ein großer Teil von ihnen zurückkehrt, weshalb der Gesamtbevölkerungsverlust zwischen 2022 und 2025 bei sieben Millionen Menschen läge.
Im Jahr 2035 würde die Bevölkerung einen Nachkriegshöchststand von lediglich 35,2 Millionen Menschen erreichen (19 Prozent weniger als vor dem Krieg), gefolgt von einem Rückgang auf 34,6 Millionen im Jahr 2040 (21 Prozent weniger als 2021). Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wäre sogar noch beunruhigender: Bis 2024 würde sie auf 19,2 Millionen schrumpfen, was 25 Prozent unter dem Niveau von 2021 läge, heißt es weiter. „In jedem Fall steht die Ukraine vor einer dramatischen demografischen Herausforderung, ähnlich wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“, sagte Studienautorin Tverdostup. „Der Aderlass bei der Bevölkerung durch den Krieg wird den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung des Landes über Jahre stark in Mitleidenschaft ziehen“, fügte sie hinzu.“
Bericht mit Material der dts Nachrichtenagentur
Foto: Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine in Deutschland, über dts Nachrichtenagentur